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Agilität als neues Konzept ist in aller Munde: Sei es als Allheilmittel im (IT-)Projektmanagement, als Organisationsform (Vorreiter war hier Spotify) oder als Führungsinstrument. Als Basis ziehen Evangelisten zu diesem Thema dann immer das agile Manifest mit seinen Prinzipien heran. Und natürlich haben auch einige Vordenker im Customer Service Bereich den Begriff „Agilität“ aufgenommen und versuchen, diesen für sich zu interpretieren. Aber agiler Kundenservice heißt nicht, Mitarbeitende noch schneller als Springer zwischen Projekten wechseln zu lassen: Das ist Firefighting (häufig mit zu wenig Ressourcen) und nicht das, was Kundenservice-Organisation erfolgreich werden lässt! Und neu ist es schon einmal gar nicht.

Warum überhaupt eine neue Organisation im Customer Care?

Wir sehen aktuell zwei große Trends für Kundenservice-Organisationen, beide resultieren aus der Digitalisierung, deren Auswirkungen auch im Customer Care ankommen.

Trend 1: Automatisierung von einfachen Kundenkontakten

Unternehmen testen im Kundenservice (aber nicht nur da) den Einsatz von Bots, als digitalen Assistenten. Die Experten streiten noch darüber, welcher Prozentsatz der Kundenkontakte durch diese digitalen Assistenten autonom (als ohne Unterstützung durch einen Kundenservice-Mitarbeiter) übernommen werden. Das „Ob“ ist keine Frage mehr.

Trend 2: Fallabschließende Bearbeitung von komplexen Kundenkontakten

In direktem Zusammenhang damit: Die Kontakte, die sich nicht für eine Automatisierung eignen, müssen durch Mitarbeitende fallabschließend bearbeitet werden können. Je mehr Kunden sich daran gewöhnen, dass Sie einfache Anliegen selbständig erledigen können, desto weniger Akzeptanz entsteht für die Weiterleitung in den Second Level und / oder das Angebot eines Rückrufs von „unserem Experten“. Die Lösung muss im Erstkontakt erfolgen, sonst wird es schwierig mit einer guten Customer Experience.

Dies erfordert Mitarbeiter, die fachlich in der Lage sind, Kundenanfragen hochwertig zu beantworten und dies auch motiviert tun. Wenn wir aber heute auf Kundenservice Organisationen schauen, dann lässt allein schon die hohe Fluktuation Zweifel daran zu.

Call-Center-Fluktuation

Fluktuation im Call Center – Vergleich zwischen Schweiz und Deutschland
Quelle: Service Excellence Cockpit 2017

Ein erster Schritt zur Standortbestimmung für Unternehmen ist die Analyse der Employee Experience. Danach wissen Führungskräfte detailliert, woran es hapert, haben aber noch keine Lösungen vorangebracht.

Einen Weg die Motivation, aber vor allen Dingen auch das Wissen der Mitarbeitenden im Kundenservice anders als bisher zu entwickeln, beschreibt Frank Otto in „der digitale Konsument am Arbeitsplatz“.

Ein anderer Weg ist die Einführung von agilen Organisationsprinzipien im Kundenservice. Diesen möchte ich gerne im Weiteren gerne genauer betrachten. (Und der Königsweg ist eine Kombination von beidem, ohne allerdings aufgrund des Spagats nicht voranzukommen.)

Prinzipien für eine neue Organisation im Customer Care

Stephanie Seiboldt hat in Ihrem Webinar „Begeisterte Kunden (er)fordern eine agile Customer Service Organisation“ die Grundlage für die Ansichten von O’Donovan auf den Begriff Agilität gelegt: Es geht um Haltung!.

Und damit sind die Kernprinzipien für die Umsetzung einer agilen Organisation im Customer Care klar umrissen: Es erfordert motivierte Individuen in selbstorganisierten Teams. Für überschaubare Teams ist dies kein Hexenwerk (auch wenn einige Führungskräfte und Unternehmen auch schon damit überfordert sind). Die Herausforderungen bei Spotify traten aber auf, als die Entwicklungsmannschaft seit 2010 stark wuchs. Und hier lassen sich gut Parallelen zum Kundenservice ziehen. Dort werden auch häufig große Teams innerhalb von großen Abteilungen gemanagt. Aber in den seltensten Fällen treffen wir bei den Audits auf motivierte Individuen in selbstorganisierten Teams.

Warum ist das so? Ich stelle immer fest, dass Führung im Kundenservice häufig eine Führung auf der Basis von Misstrauen, Kontrolle und Mikromanagement ist. So gedeiht wenig Motivation und es gibt keinen Raum für Selbstorganisation in den Teams.

Die Fakten im Kundenservice widersprechen einem der Kerngedanken zur Agilität à la Spotify: Vertrauen!

Leitgedanke im Call Center

Kerngedanke Trust

Herausforderungen bei der Umsetzung einer agilen Organisation im Customer Care

Transparent wurde die Notwendigkeit für ein Ende der Kontrolle in Kundenserviceorganisationen immer dann, wenn neue Kanäle eingeführt wurden. Für diese gab es neue Kundenerwartungen an Geschwindigkeit und Qualität der Antworten. Zum Beispiel der Chat: Mit Kontrollmethoden wie Silent Monitoring, Transaction Monitoring nicht vernünftig zu überwachen. Die Verantwortung für das Image des Unternehmens wanderte stärker zum Mitarbeitenden, denn Gesprächsleitfäden greifen auch nicht. Die Tonalität der Konversation hängt nämlich vom Dialog ab und der Mitarbeitende muss spontan reagieren können.
Mit Speed-KPIs wie „Average Handling Time“ (AHT) ist die Güte des Chats nicht mehr zu messen. Was ist denn gut? Wenn die AHT unterboten wird? Oder doch eher, wenn die AHT überzogen wird? Wie misst man überhaupt die AHT an diesem Kontaktpunkt?
Und mit der Einführung weiterer Kontaktpunkte wie Messaging-Diensten wird dieser Trend zur notwendigen Selbständigkeit noch zunehmen. Und damit muss das Vertrauen („trust“) in die Mitarbeitenden zunehmen, sonst werden diese Kundenservice-Organisationen nicht erfolgreich sein.

Unternehmen haben häufig mit kleinen Reorganisationen im Kundenservice reagiert und die „Social Media“-Teams neu gegründet, abseits gesetzt und handverlesene Mitarbeitende dorthin versetzt.

An diesem Beispiel zeigt sich die Herausforderung: Kundenservice, der effizienzgetrieben mit einem Füllhorn von Kennzahlen ausgestattet ist, muss umlernen. Der Weg von Planung und Kontrolle hin zu Irrtum und Fehlerkorrektur. Vor allem Führungskräfte, die gerne von „Truppen“ geredet haben und sich über die Anzahl von FTE (Full Time Equivalent) identifiziert haben, werden es in der neuen Welt des Kundenservices sehr schwer haben.

Führungskräfte werden noch immer „Zielvorgaben machen“ oder besser „Leitplanken vorgeben“, aber anschließend dafür sorgen, dass die Zielerreichung durch die Zusammenarbeit von motivierten Individuen und selbstorganisierten Teams geschieht.

Auch Kennzahlensysteme müssen stärker auf das tatsächliche Ziel wie gute Customer Experience und weniger auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet werden. Wer Mitarbeitenden ein zu starres Korsett aus operativen Kennzahlen auferlegt, wird nicht die notwendigen Kräfte zur Eigenmotivation entfalten lassen.

Aber vielleicht die wichtigste und allererste Erkenntnis für alle, die diesen Weg beschreiten wollen: Es wird nicht schnell gehen! Denn die Organisationsform lässt sich nicht anordnen, diese muss von den Teammitgliedern erlernt werden. Nur dann ist man von Anfang an selbständig!
Es ist also ein Fehler zu glauben: „Wir führen mal schnell eine agile Organisation ein. Macht mal.“ Und im Kundenservice kommt noch erschwerend hinzu, dass die alten, Misstrauens-basierten Verhaltensmuster erst einmal verlernt werden müssen. Es ist immer einfacher eine Organisation auf der „grünen Wiese“ neu zu bauen und groß werden zu lassen wie bei Spotify, als eine bestehende Organisation zu transformieren. Aber nichtsdestotrotz müssen sich die Organisationen und Führungskräfte im Kundenservice dieser Herausforderung stellen, wenn Sie weiterhin erfolgreich sein wollen.

Erste positive Beispiele für agile Kundenservice-Organisationen sind da

In Organisationen unterschiedlicher Größe und aus verschiedenen Branchen wachsen erste erfolgreiche Ansätze, es gibt Führungskräfte, die sich vorgenommen haben den Weg zu gehen. Und in den Interviews auch zugeben: „Wir sind ergebnisoffen“. Das ist genau die Art des Erlernens, die notwendig für den Erfolg der Einführung ist.

So gibt es zum Beispiel …

  • den Customer Service im E-Commerce, der die Pflege seines Wissensmanagements in die Hände einzelner gelegt hat. Dort wurde das zentrale Redaktionsteam aufgelöst und die Verantwortung für die einzelnen Rubriken Mitarbeitern aus verschiedenen Teams überlassen. Und Anfangs gab es dann weniger aktuelle Artikel und es schlichen sich Fehler ein. Aber die Teams fanden in internen Diskussionen Lösungen wie einen neuen Freigabeprozess zur Verbesserung von Aktualität und Qualität.
  • den Kundenservice eines Hightech-Unternehmens, bei dem die Trennung in First Level und Second Level aufgehoben wurde. Und die Teams nun eigenständig die Bedienung der synchronen und asynchronen Kontaktpunkte organisieren. Als Grundlage haben die Führungskräfte den Mitarbeitenden ermöglicht, dass alle den gleichen Wissenstand erhalten. So dass nun entschieden werden kann, ob Antworten sofort im Kundenkontakt gegeben werden können. Oder sie die Antworten zu einem späteren Zeitpunkt geben wollen. Abhängig machen die Mitarbeiter Ihre Entscheidung von gemeinsam verabschiedeten Parametern aus Auslastung und Komplexität der Anfrage.
  • die Kundenbetreuung einer Versicherung, die Ihre Personaleinsatzplanung umgebaut hat. Aus einer zentralen, personenbezogenen Schichtplanung wurde eine Bedarfsplanung auf Teambasis. Die endgültige personenbezogene Einsatzplanung verantworten nun die Teams selbst. Und die Reise wird zeigen, ob die erwartete Verringerung von Abwesenheiten den möglichen Effizienzverlust kompensiert. Bei allen Herausforderungen, die sich den Teams technisch stellen, denn auf diese Verteilung von Verantwortungen sind die führenden Personalplanungssysteme nicht ausgelegt.
  • den Customer Care eines Telekommunikationsunternehmens, der begonnen hat komplette Spezialisten-Teams aufzulösen und das Knowhow über Experten je Team in die Breite zu tragen. Um zuzusehen, dass trotzdem die Aktualität des Knowhows gewährleistet bleibt, bilden die Verbände analog zur der Methodologie von Spotify. Diese Kolleginnen und Kollegen kommen regelmäßig persönlich oder auch in Webkonferenzen zusammen, um sicherzustellen, dass in allen Teams zu gleichen Kundenfragen ähnliche, vor allem richtige Antworten gegeben werden.

Der Weg hin zu einer agilen Organisation ist für Kundenserviceorganisation machbar und sinnvoll. Aber für die Geschwindigkeit und die Einführung in der Organisation gibt es keine Standards (Selbständigkeit!). Was aber gerade die Führungskräfte berücksichtigen müssen, ist Ihre Verantwortung für die Transformation. Die Möglichkeiten Fehler zu machen für die, die Voranschreiten ebenso zu respektieren wie die Mitnahme der Unwilligen sicherzustellen. Das heißt, den Mitarbeitenden einen Platz zu bieten, die unter „Dienst nach Vorschrift“ keine innere Migration verstehen, sondern damit ganz zufrieden sind.

 

Bildquelle: pixabay.com

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Matias Musmacher
+49 160 97 46 77 9977

...ist Vorstand bei der O’Donovan Consulting AG. Seit mehr als 18 Jahren steht die Lösung von Herausforderungen aus Vertrieb und Service in Verbindung mit innovativen technologischen Lösungen im Fokus seiner Tätigkeit. Aktuell unterstützt er seine Auftraggeber dabei, Strategien für eine kundenorientierte Unternehmensführung zu entwickeln und im Unternehmen umsetzen. „Unternehmen können am Markt gewinnen, wenn Sie es schaffen, Services in Abhängigkeit der jeweiligen Situation zu individualisieren, dass Kunden bleiben – am besten aus Bequemlichkeit, gerne auch aus Begeisterung.''